Flaschenpost vom Narrenschiff

2006 Teil (a)


Mittwoch, 22. November 2006
Amok. Guten Tag, meine Damen und Herren. Um 9 Uhr 28 des 11.11. 2006, ja, das entspricht den Tatsachen: ich meine heute, wurden wir durch einen Telefonanruf davon in Kenntnis gesetzt, daß es an der Schule vermutlich zu einer Amoksituation gekommen war. Ja, es handelte sich um eine Sekretärin. Aus der Zurückverfolgung des Anrufs und anderen Informationen, die noch aus ermittlungstaktischen Gründen der Geheimhaltung Stufe 2b unterliegen, können wir mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, daß es eine Schulsekretärin war.

....... Das ist zutreffend: Die Weiterleitung der Meldung wurde aber zügig vorgenommen, nachdem unter Verwendung einer Telefon-Fangschaltung vorsorglich der Fernmeldeanschluß der Anruferin in weniger als vier Minuten lokalisiert werden konnte und ihre Personalien aufgenommen waren. Mehr ist zur Stunde nicht bekannt. Also es wurde uns von einer Sekretärin, allerdings nur fern-
mündlich, zur Kenntnis gebracht, daß eine Amoksituation bestand, die eventuell zu einer Amoksi-
tuation der Stufe 3, also einer mittleren verschärften Amoksituation mit Bedrohungspotential und Geiselnahme, eskalieren konnte. Der diensthabende Beamte benachrichtigte umgehend die laut Zuständigkeitsweisung vom 01.11.2006, 00:00 Uhr zuständige Dienststelle, das ist das für Amok-
situationen der Stufen 3 und höher zuständige Zentralkommissariat, und es wurden der Name der Schule, Straße und Ort mitgeteilt. Auf Nachfrage konnte die fragliche Person ferner Informationen liefern, aus denen geschlossen werden konnte, daß es sich bei der Schule um ein Gebäude vom Typ A2 handelte, also mindestens ein Eingang und mehrere Fenster. Außerdem konnte die über-
mittelnde Person bereits das Geburtsdatum und die Schuhgröße des Schulleiters angeben; aus der Schuhgröße kann bei schwierigen Identifizierungssituationen die Ableitung wertvoller Hinweise herbeigeführt werden.

Die Meldung über das Bestehen einer Amoksituation wurde kurze Zeit später vom Zentralkom-
missariat an die zentrale Leitstelle Nord für Amokeinsätze und Geburtstagsfeiern von Deutsch-
russen weitergegeben. Nach einer Rückfrage, ob es sich um eine Geburtstagsfeier handelt, was der Beamte verneinen konnte, wurden die, in zwei speziell für derartige Einsätze in der Zeit vom 03.05. bis 06.05.2002, also nach den Erfurter Vorkommnissen vom 26. Vierten 2002, und dann noch-
mals zwischen dem 18.03.2006, 7 Uhr 30 bis zum 22.03.2006, 17 Uhr 41 zur Durchführung ge-
langten Sonderfortbildungen sonderfortgebildeten Beamten der SEAG (Sondereinheit Amok/
Geburtstagsfeiern) per Fernruf und SMS in Einsatzbereitschaftsstufe 2 überführt. Die Beamten wurden in äußerst kurzer Zeit mit der Vorabklärung der Situation und eventuellem Anti-Amok-
Zugriff nach Dienstvorschrift PZDV 416a/04 beauftragt und umgehend in Marsch gesetzt. Sie näherten sich dann gegen 9 Uhr 27, ja danke, also knapp eine Minute vor Eingang der Alarm-
meldung, nach Verlassen der Einsatzfahrzeuge unverzüglich zu Fuß dem Einsatzort und drangen ohne Rücksicht auf die Gefahr eigener Verletzungen in das Gebäude ein, wo sie sich im wesent-
lichen unter Benutzung vorhandener Türen in Richtung Gebäudeinneres vorarbeiteten. Wie sie es bei den computergestützten Schulungen eingeübt hatten, arbeiteten sie sich nicht vom zweiten Stock zum Erdgeschoß, sondern vom Erdgeschoß zum zweiten Stock vor, den sie erwartungs-
gemäß oberhalb des ersten Stockwerks antrafen.

.... Wir können zur Zeit nur so viel sagen: Es handelte sich bei der vermutlichen Person vermutlich um den mutmaßlichen Täter. Die erkennungsdienstliche Behandlung der auf der rechten Körper-
seite, ich wiederhole: Körperseite, liegend im zweiten Stock vorgefundenen vermutlichen Person wurde erheblich erschwert dadurch, daß die ordnungsgemäße Durchführung einer Gesichtserken-
nung zum damaligen Zeitpunkt einer Möglichkeit entzogen war. ... Das ist richtig, der größte Teil des mutmaßlichen Gesichts war nicht mehr vorhanden, das Vorhandensein konnte vom Polizeiarzt Dr. Schnipp mit großer Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden. Ob der Gesichtsverlust durch Schußwaffeneinwirkung oder Sprengstoffgebrauch verursacht wurde oder ob dasselbe an diesem Morgen einfach zu Hause vergessen wurde, konnte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner ab-
schließenden Klärung zugeführt werden. Allerdings deuten Spritzer und sonstige Verschmutzungen an Decke und Wänden darauf hin, daß das Gesicht zu Beginn der Tatbegehung noch in nennens-
wertem Umfang vorhanden gewesen sein dürfte. Für weitere Einzelheiten muß ich Sie bitten, das Ergebnis der Obduktion abzuwarten, das Ihnen dann in einer weiteren Pressekonferenz zur Kennt-
nis gebracht werden wird.

Die Beamten der SEAG, die aufgrund der gründlichen Vorbereitung auf derartige Situationen vom Verlassen ihrer Diensträume bis zum Eindringen in den zweiten Stock der Schule streng nach Plan vorgingen, nahmen keine Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit vor, äh nahmen keine Rücksicht, meine ich. Da es zu keinem direkten schußwaffengestützten Zugriff auf die vermutliche Person des mutmaßlichen Täters mehr kam, da dieser nach unseren Erkenntnissen zum betreffenden Zeitpunkt bereits verschieden war, beschränkten sich die Verletzungen der 15 Beamten auf mittlere bis schwere Vergiftungen durch die zum Einsatz gekommene Rauchgasmunition des Verstorbenen. Die Gefährlichkeit war demselben zum Einsatzzeitpunkt durch die Beschriftung "Vorsicht! Reizt Augen und Atemwege!" bekanntgemacht worden. Eine akute Gefährdungssituation war somit als gegeben anzunehmen. Nachdem die Beamten ohne Rücksicht auf ihre .... Warum das äh so oft be-
tont werden muß, ja das geht aus einer Dienstvorschrift hervor, die ich ... äh, nein wir haben nach meinen Informationen im Moment keinen Wahlkampf. Es kam also vorschriftsmäßig, äh nein: be-
dauerlicherweise zu den erwähnten Verletzungen mehrer Polizeibeamter. Die Verletzten wurden noch vor Erreichen der Einsatzdurchführungsbeendigung nach Kampfmitteleinsatzneutralisierungs-
einsatzvorschrift zwecks stationärer Behandlung in das örtliche Krankenhaus verbracht. Die Ver-
letzungen, die die Beamten ohne Rücksicht auf das eigene Wohl in Kauf nahmen, gehen von trä-
nenden Augen bis zu mittlerem Reizhusten mit etwas Sputumauswurf. Nähere Einzelheiten dürften in den nächsten Tagen in einer weiteren Pressekonferenz zur Mitteilung bereitgestellt werden.

Eine weitere Erschwerung bei der Situationserfassung, -klassifizierung und -abarbeitung bestand darin, daß entgegen dem typischen Verlauf der größte Teil der Schüler und Lehrer bereits aus eigener Initiative und ohne ausdrückliche Anweisung das Schulgebäude vor Eintreffen der Einsatz-
kräfte ungeordnet bis fluchtartig verlassen hatte. Diese Personen konnten daher von den Beamten nicht mehr gerettet werden, was ja eigentlich deren Aufgabe gewesen wäre. Die Schulung unserer Einsatzkräfte umfaßt allerdings auch die Fokussierung auf unerwartete Situationsmerkmale, selbst wenn diese überraschend zur Erscheinung gelangen. Als bei der im zweiten Stock aufgefundenen, äh angefundenen vermutlichen Leiche des vermutlichen Tatbegehers nicht wie laut Schulungsvor-
gabe zu erwarten, mindestens drei weitere Leichen von vermutlichen Opfern angetroffen wurden, haben die Beamten sofort flexibel auf die Lageänderung reagiert. Sie haben in vorbildlicher Dienst-
auffassung darauf verzichtet, die Situationsmerkmale nachträglich normgerecht nachzuführen und die übrigen Vorschriften für die Tatortsicherung zügig in Anwendung gebracht.

Es kamen lediglich eine einschüssige Kleinkaliberwaffe und zwei ebenfalls einschüssige Vorderla-
der-Langwaffen, auch Gewehre genannt, zur Verwendung. Für den Täter lagen daher wegen der langen Nachladezeiten von ca. 4 Minuten pro Waffe und weil er nur 8 Schuß Munition besaß, bei der Tatabarbeitung zeitliche und durchführungstechnische Beschränkungen erschwerend vor.
..... Es ist zutreffend, daß die potentiellen Amokopfer dadurch in der Nachladephase die Klassen-
räume bzw. die Aula verlassen und sich in Sicherheit verbringen konnten, es wird jedoch zur Zeit geprüft, ob das nicht den Tatbestand der unerlaubten Entfernung von einem Tatort erfüllte. Das Nichtzustandekommen weiterer Todesopfer ist jedoch in erster Linie auf das schnelle Erscheinen der Einsatzkräfte am Tatort zurückzuführen, die dank ihrer professionellen Schulung den bereits verstorbenen mutmaßlichen Täter an der Begehung weiterer Straftaten professionell gehindert haben bzw. hätten. Die erfolgreiche Umsetzung unseres neuen professionellen Anti-Amok-Kon-
zepts für Schulen hätte sich natürlich im Falle eines täterseitigen Einsatzes von halb- oder vollauto-
matischen Waffen wesentlich klarer demonstrieren lassen, was nun leider auf einen späteren Zeit-
punkt verschoben werden muß.

Ein Lehrer mit den Fächern Bewerbungstraining und Religion, der auch in Zusammenarbeit mit der hiesigen Polizeidienststelle für Fahrradkontrollen zuständig ist, hat den Täter, äh den vermutlichen Täter, aus einer Entfernung von 43,42 m gesehen und in ein pädagogisches Gespräch zu ziehen versucht. Infolge der Entfernung, aber auch weil der Täter offenbar in Eile war, konnte der mut-
maßliche Zeuge, äh ich meine der mutmaßliche Täter und der Zeuge, nur in Erfahrung bringen, daß der Täter, sag ich jetzt mal, am Morgen Kellogg-Cornflakes mit Hansano-Vollmilch und anschlies-
send ein Nutellabrot zu sich genommen hatte. Nach Angaben des Zeugen äußerte der mutmaßliche Täter den Verdacht, daß die heute morgen herrschenden Wetterverhältnisse wahrscheinlich vom Deutschen Wetterdienst herbeigeführt waren, um ihn zu ärgern, was den Entschluß zur Tatbege-
hung wohl entscheidend zum Reifen gebracht hat. Für eine von der Lehrperson vorgeschlagene Diskussion über Vorzüge und Schwächen des dem Lehrer bekannten Computerspiels "Moorhuhn-
jagd" war eine Zustimmmung der Zielperson nicht gegeben. Der Zeuge wird noch zu weiteren möglichen Motiven, die zu der Tatbegehung geführt haben könnten, befragt.

Außer den Verletzten mit Schußverletzungen und den rauchvergifteten Polizeibeamten haben wir noch 28 verletzte Personen, die weder Rauchvergiftungen noch Schußverletzungen aufweisen. Die Verletzungen dieser Gruppe sind Schockverletzungen leichten bis mittleren Grades. Mehrere Schockzustände sind darauf zurückzuführen, daß den betreffenden Personen nachträglich einfiel, daß der mutmaßliche Täter sie vor einigen Wochen schon einmal böse angeguckt hatte. Soweit diese Verletzten nicht umgehend in stationäre Behandlung überführt werden mußten, wurden bei ihnen die zur Zeit gültigen Vorschriften für die psychologische Betreuung zur Anwendung gebracht. Dazu sind noch im Laufe des Morgens siebzehneinhalb speziell für die Betreuung von Opfern mit Schockzuständen (leichter bis mittlerer Intensität) besonders geschulte Kräfte des Dienstes für Opferschockbetreuung der Landespolizeidirektion mit kampfmittelgesicherten Raupenfahrzeugen der Marke MAN sowie Amphibienfahrzeugen der Wasserschutzpolizei, letzteres auf dem Wege der Amtshilfe, an den Tatort verbracht worden. In konsequenter Umsetzung der Amokverlaufs-
analysenergebnisse der letzten Jahre befanden sich unter den erwähnten Betreuungskräften auch fünf Beamtinnen (zwei Polizeihauptkommissarinnen und drei Polizeimeisterinnen) mit erfolgreich abgeschlossener Spezialschulung in Zubereitung und Verabreichung von belegten Broten, die in Zusammenarbeit mit den am Tatort tätig gewordenen Notfallseelsorgern zur Einführung, äh Verab-
reichung gelangten.

..... Nein, das entspricht nicht den Tatsachen. Es trifft zwar zu, daß polizeiliche Einsatzkräfte die Durchführung von Einsatzdurchführungen vermehrt mit Tarnausrüstung, insbesondere herunter-
gezogenen Sturmhauben der Marke "Panda" sicherstellen. Dies besonders für den Fall, daß sie von einer dem finalen Rettungsschuß zugeführten Täterperson vorher erkannt werden könnten. In Einzelfällen muß auch davon ausgegangen werden, daß Beamte bei Schreibtischtätigkeiten oder einer freiwillig durchgeführten Schulungsmaßnahme an Computer-Simulationsprogrammen wie etwa "Counter Strike" in realer Kampfmontur vom Einsatzbefehl überrascht wurden und keine Zeit mehr für die Anwendung der eigentlich anzuwendenden Einsatzbekleidungsvorschrift PolEBklV 47/11 hatten. Es ist jedoch vorläufig nicht davon auszugehen, daß in nächster Zukunft auch Fahr-
zeugkontrollen nach Geschwindigkeitsübertretungen oder Fahren mit Fernlicht im innerörtlichen Bereich oder etwa die Wolldeckenausgabe im Katastrophenfall mit Sturmhaube und Maschinen-
pistole zur Ausführung kommen, weil dafür die vorhandenen Mittel nicht ausreichen. Es sind aller-
dings Überlegungen im Gange, wegen des erhöhten Gefährdungspotentials die mit der Überwa-
chung des ruhenden Verkehrs betrauten Politessen mit Sturmhauben auszustatten.

Das wärs für den Augenblick, meine Damen und Herren. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, gebe ich jetzt das Wort weiter an den Herrn Leitenden Staatsanwalt Dr. van Verknakken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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Eventuelle Ähnlichkeiten mit Pressekonferenzen wie etwa aus Anlaß des am 20. November 2006 in Emsdetten (NRW) zur Ereignung gekommenen Amokvorfalls sind nicht ganz unbeabsichtigt.



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