Ist antiautoritär heilbar?

Die Diskussionen um Sinn und Unsinn der sogenannten antiautoritären Erziehung sind längst geführt, wirklich neue Argumente nicht zu erwarten. Trotzdem greife ich mir hier, zum Teil nur um des Amuse-
ments willen, ein paar Aspekte heraus, um sie auf meine Art zu reflektieren. Außerdem ist man heute
bei der Bewertung nicht mehr auf bloße Hypothesen angewiesen; die Folgen dieses Erziehungskon-
zepts - im Guten wie im Schlechten - sind heute als Fakten erkennbar. Natürlich gilt hier dasselbe wie
im Abschnitt Begabung angesprochen: Ob die Ergebnisse heute als "Erfolgsstory" oder "Katastrophen-
szenario" wahrgenommen werden, das liegt nun mal am Auge des Beschauers. Die Deutungsspiel-
räume sind groß, Don Quichote sieht die Welt anders als Sancho Pansa. Das muß wohl der in den Lehrplänen so gern erwähnte Entwurfs- und Konstruktcharakter von Wirklichkeit sein ...


Am Anfang war die Torheit

Die unglückselige Anthropologie der französischen Aufklärung – ob direkt von Rousseau übernommen oder durch Marx, Neill und andere vermittelt – läuft immer auf denselben Unfug vom natürlich und unter-
schiedslos guten, weil vernünftigen Menschen hinaus. Ja, das war noch ein glückliches Zeitalter, wo
man rein philosophisch, von jeder Empirie unbehelligt, zum eigentlichen Wesen des natürlichen Men-
schen vordrang! Hebt seine Entfremdung auf, das heißt, befreit ihn von allem, was seiner Natur fremd ist, und hervor tritt das edelste der Geschöpfe! Und vernünftig obendrein! Was gibt es da noch groß zu er-
ziehen? Eltern und Schule geben vielleicht ein wenig Orientierungshilfe, gaaaaanz vorsichtig, als bloßes Angebot, um Gottes Willen kein Zwang! Denn Zwang, Gewalt in jedweder Form, machen aus dem edlen Wesen ein gehässiges, eigensüchtiges Monstrum. Wer autoritär erzieht, setzt den Zwang an die Stelle
     a) des Einsicht erzeugenden Gesprächs, bzw.
     b) der lehrreichen eigenen Erfahrung,
das eine so "kontraproduktiv" wie das andere.

Variante a), Freiheit als diskursiv erzeugte Einsicht in die Notwendigkeit

Ich durfte einmal, vor Jahren, miterleben, wie ein solches edles Geschöpf im rationalen Diskurs und ganz autoritätsfrei zu der Einsicht gelangte, daß es mit Fernsehen wohl für diesen Tag sense war. Für mich war es ein aufschlußreiches Erlebnis.
Die kleine Meike, vier Jahre, wollte gern noch fernsehen. Die Eltern, beide Lehrer in Hamburg (muß ich mehr sagen?), hatten natürlich mit ihr zusammen ihren Fernsehplan für die Woche ausgearbeitet, und
der sagte: njet. Es folgte ein Affentheater von ca. 20 Minuten:


Mama:


Meike:

Mama:


Meike:

Mama:



Meike:

Mama:


Meike:

Mama:


Meike:

Mama:


Meike:

Meike, du hast alles gesehen, was wir zusammen angekreuzt haben. Mehr wolltest du doch nicht gucken.

Ja, aber die Sendung möchte ich doch auch gern sehen.

Wir haben doch aber am Sonnabend den Plan für die Woche zusammen auf-
gestellt. Es war doch deine Entscheidung, diese Sendung nicht zu sehen.

(weinerlich) Wenn ich doch aber diese Sendung so gerne gucken möchte!

Meike, wir waren uns doch einig, daß zu viel Fernsehen dir schadet. Das letzte Mal haben wir erst vor drei Wochen die Sache zusammen diskutiert, und du hast selbst festgestellt, wie schädlich zu viel Fernsehen ist.

Ja, aber dieses bißchen ist bestimmt nicht schädlich.

Es war doch deine freie Entscheidung. Und wenn man so etwas entschieden hat, kann man es doch nicht einfach wieder umwerfen, oder?

Tu ich ja gar nicht, aber die Sendung könnte ich doch trotzdem gucken.

Ja, aber wozu streichen wir denn überhaupt deine Lieblingssendungen an, wenn du dich später nicht daran hältst?

Ich halt mich ganz bestimmt dran. Nur dieses eine Mal! Bitte!

Meike, du hast alles gesehen, was wir zusammen angekreuzt haben. Mehr wolltest du doch nicht gucken.

Ja, aber die Sendung möchte ich doch auch gern sehen.

... und nochmal von vorn, das Ganze, 20 Minuten lang. Dann Meike heulend nach links ab.

Ich wette, die Opfer antiautoritärer Erziehung (Typ a) erkennt man später daran, daß sie bei dem Wörtchen "doch" hektische Flecken bekommen. Hätte mir das arme Gör nicht so leid getan, ich wäre
vor Lachen vom Stuhl gefallen.

Das kleine Mädchen verhielt sich so, wie sich meiner Ansicht nach normale Vierjährige verhalten müs-
sen: Das, was sie gerade tun oder haben wollte, wollte sie per se, gewissermaßen legitimationsfrei.
Daß in unserem Kulturkreis zu jedem Wunsch, jeder Handlung eine rituelle Waschung in Gestalt einer Begründung gehört, hatte sie noch nicht begriffen. Die Einübung dieser Kulturtechnik stand aber sicht-
lich schon auf dem Programm. Mammis (ach nein, Meike mußte sie ja "Helga" oder "Trudi" oder sonst-
was nennen; ich hab's vergessen), also, Trudis Konsequenz war gewiß lobenswert. Nur, wie kann man seinem Kind so etwas antun: Statt klipp und klar mitzuteilen: "Meike, du kennst unsere Vereinbarung, der Worte sind genug gewechselt, und jetzt machst du bitte 'n Abflug", wurde die quälende psycholo-
gische Abnutzungsnummer voll durchgezogen.

Wieso sollte Meike davon ausgehen, daß man einmal mit sich selbst oder anderen Vereinbartes auch einhalten muß? Pacta sunt servanda? Das ist eine gesellschaftliche Konvention, kein Naturgesetz. Die arabische oder die afrikanische Welt kommen bis heute sehr gut ohne das aus!

Die Scholastik zeitigt sonderbare Früchte: Im Mittelalter haben sie straffällig gewordene Schweine und sonstiges Getier der Hochnotpeinlichen Befragung unterzogen und öffentlich hingerichtet. Und alles, was die Tiere taten oder unterließen, bestätigte haargenau die Lehrmeinung, statt sie in Frage zu stellen.
So auch hier:Meike hatte "selbst" herausgefunden, wie schädlich Fernsehen ist. Wirklich? Über welche eigenen Prämissen verfügt denn ein Kind, um daraus solchen Schluß zu ziehen?  Zweckmäßigkeits-
überlegungen enden bald am begrenzten Wissens- und Erfahrungshorizont des Kindes/Jugendlichen.
Auf die vorschriftsmäßig autoritätsfreie Anfrage "Meike, wir achten immer darauf, nicht mit spitzen Ge-
genständen die Bildröhre zu beschädigen. Wie siehst du das?" würde ich nicht unbedingt mit der Ant-
wort rechnen: "Natürlich genau so. Schließlich haben wir ja schon kurz nach meinem dritten Geburtstag zusammen herausgefunden, daß bei einer Bildröhrenimplosion die Teile über den gedachten Mittelpunkt hinaus nach außen weiterfliegen und erhebliche Verletzungen hervorrufen können." Immerhin könnte man sich hier auf "Wie funktioniert das?", Band 2157 berufen.

Aber wie entwickelt ein Kind (ein Jugendlicher) ohne fremde "Hilfe" eine eigene Ethik? Doch wohl kaum per Deduktion aus allgemeinen sittlichen Prinzipien, wie Sokrates oder der tugendhafte Robespierre, sondern aus der sozialen Erfahrung von Zustimmung und Ablehnung durch die anderen. Und eine Dis-
kussion, die mit "Mammi, warum können die anderen mich nicht leiden?" beginnt und nach fünf Minuten mit einem lapidaren "Das ist eben so" endet, wird wohl nicht gerade auf einen typisch sokratischen Dialog über die abstrakte Idee der Tugend hinauslaufen. Eher auf einen pragmatischen Vortrag über Aufrichtigkeit, Pünktlichkeit oder Deodorantgebrauch. Das ist wahrscheinlich hilfreicher als die Berufung auf nur scheinbar autoritätsfreie letzte Wahrheiten. Fast immer ist das, was die rationalistischen Dog-
matiker als Sieg der besseren Argumente feiern, in Wirklichkeit nur eine intellektuelle Überwältigung des Schwächeren durch den Stärkeren, hier: des Kindes durch die Eltern.

Berlin, antiautoritärer Kindergarten 1978 oder so:
(Hab' ich wohl , cum grano salis, aus der FAZ plagiiert)

"Tante, was soll ich jetzt mal malen?"
"Ich heiße nicht 'Tante', sondern ich bin die Carola.
Und du sollst nicht, sondern du entscheidest selbst, was du jetzt malen willst, wenn du etwas malen willst."
"Och Tante Carola, dann sag mir doch mal bitte, was ich jetzt malen will!"



 



Wie schon angedeutet und ähnlich wie beim Ostereier-
suchen kann man die lieben Kleinen ganz unterschiedliche Ethiken und Sozialisationsfor-
men "selbst herausfinden" las-
sen: Von der absoluten Ethik
der Selbstlosigkeit über das göttliche Gebot bis zum blan-
ken Utilitarismus ist viel Platz. Gemeinsam ist allen Modellen die Selbsttäuschung von Eltern und Erziehern über das, was da eigentlich psychologisch abläuft, und irgendwie auch die Entschlossen-
heit, die Kinder möglichst früh aus ihrer Kindlichkeit zu "erlösen". Andererseits aber auch die Bereit-
schaft, ihnen viel Zeit und Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Die konsequent praktizierte utilitaristische Beweisführung geht i.a. so etwa über dreißig Stufen: Du mußt jetzt Vokabeln lernen; sonst schreibst du in der Klassenarbeit eine Fünf; dann ist deine Versetzung ge-
fährdet; ...... ; und du willst doch das Abitur schaffen, oder? .... und .... und .... und .... ; und nur dann bekommst du nachher mit sechzig eine auskömmliche Rente. Wenn Sohnemann sich schließlich über-
zeugen läßt, ist das keineswegs ein Sieg der utilitaristischen Vernunft, sondern ordinärer Pragmatismus: Seine Rentenperspektive ist ihm zur Zeit völlig schnurz (verständlicherweise), jedoch stimmt er jetzt der Argumentation zu, weil er gerade dringend diese neue CD braucht oder ins Kino möchte. Vertrauensbil-
dende Maßnahme nannte man das mal.

Vor einiger Zeit hatte ich einmal eine Besprechung mit den Eltern eines 13jährigen [Welcher Volltrottel ist bloß auf die Schreibung mit dem großen "J" gekommen!], bei dem es  nach einem halben Jahr absolut ver-
geblicher Nachhilfe klar war, daß der Junge einfach nicht wollte. Irgendwann sagte der Vater dann, um uns allen Mut zu machen: "Wir haben Andreas ja selbst die Entscheidung überlassen, und er ist ent-
schlossen, das Abitur zu machen. Stimmt doch, Andreas, oder?" Andreas nickte ernsthaft, der Vater sprach weiter, während ich noch einen Moment lang den Jungen ansah. Er lächelte mich freundlich an, und auf der Ironie in seinem Blick glitzerten Eiskristalle ...

Natürlich gibt es auf der anderen Seite Fünfzehnjährige (fünfzehn-Jährige?), die das ganze Szenario von Rationalität und Lebensangst tatsächlich verinnerlicht haben. Aber Psychotherapeuten wollen schließlich auch leben ...

Variante b), durch Erfahrung klug werden

Wer kennt sie nicht, die entspannenden Nachmittage, wenn der Kaffeebesuch an der Tür klingelt, und an den modernen Eltern vorbei drängelt der Nachwuchs ins Wohnzimmer. Bedient sich am Kaffeetisch, (nur eine Tasse umgekippt, danke, lieber Gott), wird sauer, wenn die Lieblingsbrause nicht vorrätig ist, inspi-
ziert alle Schränke in Greifhöhe (is bloß Schoklade, sagt Mammi, krisstu leicht wieder ab), bringt die publikumswirksame Kukidentnummer (drei Phasen): 1. Mundwinkel mit den Fingern auseinanderziehen, Kopf links/rechts kippen (4 Minuten), 2. tot umfallen, drei Varianten mit/ohne Stuhl (5 Minuten), 3. mit Dauerton um den Tisch (18 Runden), zieht die Katze am Schwanz, aber nur kurz, die hat keinen Sinn fürs Antiautoritäre, immerhin Learning-by-doing, macht sich den Fernseher an (nicht so laut, Svenni, ich versteh ja mein eigenes Wort nicht!), wie geht denn die Scheißfernbedienung, na und so weiter. Abends Ehekrach: Du hättest ihm das mit der Lautstärke nicht sagen dürfen! Sven muß das alleine herausfinden. Außerdem wollten wir doch nicht mehr "Svenni" sagen, weil das seine Persönlichkeitsentwicklung ver-
langsamt.
Neulich, bei der Fraueninitiative zur Rettung der südpolnischen Brennessel ließen sie ein tolles Buch herumgehen, gleich gekauft. Da wird es von Experten ganz klar statistisch nachgewiesen: Diese und noch andere Anpassungsphasen der Kinder kommen spätestens zum Abschluß, sobald sie selbst Kinder und/oder Kaffeegäste haben. Die Zeit, bis es soweit ist, wird ja nach der Einschulung gern von
den Lehrkräften der Grundschule, notfalls auch noch der Orientierungsstufe überbrückt. Schließlich haben diese Leute ja sonst nichts weiter zu tun.

Das Regelkreisparadigma und seine Grenzen

Ja, die Variante b) hat es in sich. Und vor allem ihr haben wir – nicht nur die Schule, sondern unsere ganze Gesellschaft – einen großen Teil unserer "Jugendproblematik" zu verdanken. Die beiden Haupt-
gründe scheinen mir zu sein:

1. Ein besseres Alibi, warum man Erziehungskonflikten ausweicht, bzw. sich gar nicht um seine Kinder kümmert, kann man sich gar nicht ausdenken.
2. Der angebliche Lernprozeß durch Eigenerfahrung funktioniert häufig nicht, und zwar immer dann nicht, wenn die Konsequenzen von Fehlverhalten stark verzögert bzw. abgedämpft bzw. überhaupt nicht beim Urheber ankommen.

Die Philosophie des "Er-muß-es-allein-herausfinden" ist ja nicht grundsätzlich und in allem falsch. Sie wird aber zum Witz, wenn man die Funktionsprinzipien des Konzepts (es sind die des Regelkreises)
und seine funktionellen Grenzen nicht erkennt. Das ist offensichtlich der Fall, wenn wie in Hamburg Erziehungskonzepte und Jugendstrafrecht darauf hinauslaufen, daß den Jungkriminellen mit "betreuten" Wohngemeinschaften oder Karibiksegeltörns kostspieliger Resozialisierungszucker in den Hintern ge-
blasen wird, wo schon längst die knallharte gesellschaftliche Repression angebracht war. Bei einer der Hauptverantwortlichen, der bisherigen Hamburger Justizsenatorin Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit, steht allerdings sowieso zu fürchten, daß sie den Terminus 'Regelkreis' höchstens mit 'Menstruationszyklus'
in Verbindung bringt. [Jedenfalls, danke, Ronald Schill, daß Sie wenigstens für vier Jahre diesen unsäg-
lichen rot-grünen Schwachsinn gestoppt haben!]

Natürlich kann man die Kinder/Jugendlichen selbst herausfinden lassen, welcher Umgang mit dem Taschengeld sinnvoll ist, daß man besser rechtzeitig aufsteht, daß man auf den Imponierstunt mit dem Fahrrad vielleicht besser verzichtet, wenn's hinterher wieder so teuer wird. Auch die Lightversion des kategorischen Imperativs "Beschädigst du mein Handy, beschädige ich dein Handy" leuchtet durchaus ein – bis sie dann durch einen gezielten Schlag aufs Auge (des Schwächeren) gruppendynamisch widerlegt wird.
Aber in vielen anderen Bereichen kann die soziale oder dingliche Umgebung nicht als Korrektiv wirken, weil, wie schon angemerkt, das Antwortsignal zu spät, gar nicht oder nur mit statistischer Wahrschein-
lichkeit kommt. Die drohende Nichtversetzung, der fehlende oder ungenügende Schulabschluß, die abgebrochene Lehre – hier erfolgt die Antwort zu spät, um noch reagieren zu können. Bei Alkohol am Steuer oder der nicht rechtzeitig abgeblockten kriminellen Karriere wird der Lerneffekt zusätzlich da-
durch gefährdet, daß die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, so gering ist. Ein Jugendstrafrecht,
das dieses geringe Risiko dann auch noch durch ein endloses Resozialisierungsgesäusel vollends ba-
gatellisiert, nützt niemandem und kommt leztlich alle, sowohl die Gesellschaft als auch die jugendlichen Straftäter, teuer zu stehen. [Obwohl Alkohol am Steuer ist vielleicht als Illustration zum Thema 'Nach-
sicht' doch nicht so gut geeignet: Hier herrscht Pogromstimmung, nicht nur bei Körnerfressern und Jo-
ghurtschlürfern, hier ist der Rechtsstaat weitgehend abgemeldet, vor allem, weil die Entscheidung über die (Nicht-)Wiedererlangung des Führerscheins nicht von einer gerichtlichen Instanz, sondern von der Laune von Prüfern und Behördenmitarbeitern abhängt. [Nee, ich hab' meinen Lappen noch, seit 1957.]

Zum Glück gibt es da ja noch die Fremderfahrung, wo man aus den Reinfällen der anderen lernen kann: Von den Alten läßt man sich ja als mündiger Mensch von 14 Jahren nichts sagen, was wissen die schon vom Leben. Aber seit Scarlet-Rexona, auch 14, mit einem Kind dasitzt, und dieser fiese Yannick-Leopold (Hach, so'n Doppelname bringt doch gleich sowas Edles in'n Plattenbau!), also dieser Yanni geht auch noch mit 'ner anderen, benutzt man doch lieber die Pille, nicht? Amüsanterweise funktioniert das System nur deshalb, weil es ab und zu nicht funktioniert ...


Fernsehen und Video – der mediale feed back der Bescheuertheit auf sich selbst.

Eine Randbemerkung zu dem an sich uferlosen Thema Fernsehen: Ob ich die endlosen Zeichentrick-
sequenzen nehme, die Kindersendungen, angefangen beim dümmlichen deutschen Sesamstraßenver-
schnitt, Kultserien wie Verbotene Liebe, Freunde fürs Leben, GZSZ, hinab auf der nach unten offenen Debilitätsskala bis zu den lallenden oder pöbelnden Gästen von Bärbel Schäfer oder Arabella – im günstigsten Fall handelt es sich um die einfache Verblödung durch Zumüllung. Im ungünstigen, etwa bei den unappetitlichen Horrorschockern oder den ekelhaften Kickboxdramen, um die Welt, betrachtet durch die Optik des gewalttätigen Psychopathen.
Dazwischen natürlich auch viel liebenswerte Vermittlung von Weltklugheit durch die Soaps: Wer jünger als 25 ist, Sätze von mehr als 5 Worten spricht und keinen Sprachfehler hat, muß behindert sein ...
Seien wir nicht ungerecht: Auch dem aufopfernd schwachsinnigen Moderatorengeschnatter auf den sogenannten Musikkanälen und sonstigen heißen Trendyprogrammen (Anke Engelke sagte bereits alles Notwendige) haben wir viel zu verdanken. Zum Beispiel, daß selbst am Gymnasium ein Drittel der SchülerInnen sich eigentlich nur noch in Gagasprache artikulieren kann.


Vom Regen in die Traufe

Ich glaube, eins der schlimmsten Mißverständnisse ist, zu meinen, daß die soziale Entwicklung der
sich selbst überlassenen Jugendlichen wirklich nach dem antiautoritären Wunschbild des Lernens aus Erfahrung verläuft. Der makaber dialektische Witz an der Sache ist, daß mit dem Rückzug der Erwach-
senen und ihrer Normen ihre Kinder keineswegs freier geworden sind, sondern danach erst recht von irrational nachgeahmten Vorbildern, durch Gruppendruck und Identitätszwänge gegängelt werden. (Ver-
gessen wir nicht die Gottesgabe des Markenwahns, der besonders der Textilbranche so tolle Umsätze beschert!) Die entscheidenden normativen, sozialen Prägungen kommen nicht mehr aus Elternhaus oder Schule, sondern aus der armseligen "Gruppenkultur" der Jugendlichen, von Gleichaltrigen oder dauer-
pubertierenden Szenegrößen. Die Erwachsenen haben es zugelassen, daß ihre Kinder sie nur noch bei Versorgungsfragen wahrnehmen, sich ansonsten Ideale und Vorbilder am Fernseher und vor allem in einem "jungen" Umfeld suchen, in dem für soziale Qualitäten wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Tüchtig-
keit, Pflichtbewußtsein, Rücksicht, Achtung vor Rechten und Eigentum anderer kaum Platz ist.Wer's nicht glaubt, sollte ab und zu einmal mit dem Schulbus oder der S-Bahn fahren. Ein Jugendlicher, der einer älteren Dame seinen Sitzplatz anbietet, bekommt wahrscheinlich von ihr ein freundliches Danke-
schön, aber todsicher von hinten den Kommentar "Der tickt doch nicht richtig!"

Gerade bei diesen  elementaren Tugenden gibt es nicht mehr viel zu regeln.  Die Logik von Mit- und Gegenkopplung , auf der ja das Lernen aus Erfahrung aufbaut, stößt hier an ihre Grenze, weil das System von Belohnung und Strafe nicht mehr funktioniert. Es sei denn, wir begeben uns gleich auf das Disneylandniveau der Amerikaner und krönen im bonbonfarbigen Dekor den "höflichsten Schüler des Monats"... Diese oben erwähnten Tugenden entziehen sich einer pragmatischen oder utilitaristischen Begründung, denn eine Gesellschaft kann auch ohne sie, auf Prolo-Niveau, durchaus funktionieren. Sie sind nicht unentbehrlich, sie sind nur  Bestandteil einer Kultur des Zusammenlebens.  Deren Regeln werden durch Prägung von den Eltern an die Kinder weitergegeben, und das heißt: keine Argumente, keine absoluten Wahrheiten, kein utilistaristisches "Du möchtest doch auch nicht, daß ...", sondern schlicht im Bedarfsfalle das elterliche Machtwort oder eine Strafe, die wirklich wehtut. Es ist an der Zeit, die  geradezu katastrophale Bilanz von Jahrzehnten  der Schmusepädagogik zur Kenntnis zu nehmen
und die Konsequenzen zu ziehen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die große Masse der charakterlich und intellektuell weitgehend intakten Jugendlichen als Thema weniger interessant ist. Das ist sozusagen die Strafe dafür, daß von ihnen keine Gefahr für unser Gemeinwesen ausgeht. Ich habe es immer als ein gewisses Privileg emp-
funden, an einem schleswig-holsteinischen Provinzgymnasium zu unterrichten, wo vieles noch nicht so heiß gegessen wie gekocht wird. Sicher hier und da tauchen auch bei uns in den Schulen, im Stadt-
bild die Uniformstücke jener großen Armee mit dem kleinen Intelligenzquotienten auf: Klumpschuhe,  Vollschißhose, Baseballmütze-quer usw.; aber das war nie repräsentativ, nicht bei uns. Das Kleinstäd-
tische, der große ländliche Einzugsbereich, der hohe Anteil an "bürgerlichen" Familien usw. können Verwahrlosung und Jugendkriminalität zwar nicht verhindern, bilden aber dennoch brauchbare Filter. 'Wenn drunten, tief in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen ...', das ist für uns noch nicht so be-
drohlich. Noch nicht: Für uns beginnt die Türkei gerade mal 15 Kilometer weiter, wo von Jugendlichen verübte Gewaltdelikte, Raubüberfälle, 'Abziehen', Vandalismus usw. schon den Alltag bilden.

Wer ist verantwortlich? Die Kinder, die Jugendlichen am allerwenigsten. Die Eltern? Sicher, aber gegen den Strom schwimmen ist nun mal schwer. Die Generation der Erwachsenen? Unbedingt. Nur leider – Kollektive sind wie Gottheiten: Sie sind taub, blind und stumm und haben auch keine Telefonnummer.
Für personale Verantwortung fehlt einfach der geeignete Adressat. Und unsere Gesellschaft ist von dem Wunschtraum der totalitären neuzeitlichen Erlöser weit entfernt: Keine große, mächtige, gemeinsame Idee erzeugt ein Kraftfeld, von dem alle ausgerichtet, "gleichgeschaltet" werden. Im Gegenteil, besten-
falls bringt ab und zu eine Mode vorübergehend ein gewisses Oberflächenmuster in das Gewimmel der Ideen und Ideechen. Die angeblich so sprachlose moderne Gesellschaft degeneriert auch nicht an zu wenig, sondern an zu viel Kommunikation. Denn die Atomisierung der Kommunikationsstränge läßt nur noch ein "soziales Rauschen" übrig, in dem das Wichtige vom Unwichtigen nicht mehr unterscheidbar ist. Selbst ein Ereignis wie das Massaker vom 11. September hat eine in Wochen angebbare Halbwerts-
zeit.

Chaostheorie und Schwarmintelligenz

Die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Gesellschaft sich durch spontane Selbstorganisation zu einem breit getragenen Konzept für den Umgang mit ihrer Jugend durchringt, ist gleich null. Übrig bleibt ein er-
ziehungs- und bildungspolitischer Minimalkonsens, nachdem sich alle antagonistischen Kräfte gegen-
seitig neutralisiert haben. Da trifft es sich gut, daß – von ganz verschiedenen Voraussetzungen ausge-
hend – die gesamtgesellschaftliche Rat- und Entschlußlosigkeit und die fortschrittliche rot-grüne Jugend-
politik so vieles gemeinsam haben, besonders in den Ergebnissen: Eine Politik der durchgängigen Nach-
sichtigkeit und des Nichthandelns. Wer nix macht, macht nix verkehrt, gell?

Das einzige, was der gesellschaftlichen Katatonie entgegenwirken könnte, wäre eine funktionierende politische Elite, die wir leider nicht haben. Eine Linke, die sich nicht entscheiden kann zwischen ideo-
logischer Verbiesterung und den opportunistischen Eulenspiegeleien eines Gerhard Schröder; gleich nebenan Mitte-rechts-Treuhändchen, denen ich noch nicht einmal den Wetterbericht glauben würde –
da ist weder das geistige noch das moralische Potential, von dem die notwendigen Impulse kommen könnten. Dabei ist doch ein "erwartungsvolles Unbehagen" in der Bevölkerung offenkundig.

In diesem Zusammenhang läßt das Wahlergebnis von Hamburg aufhorchen. Ronald Schill, selbst wohl kein Waisenknabe blinder Rechtsstaatlichkeit, wird Opfer einer ganz schäbigen linken Palastintrige und schlägt auf einer unerwarteten Ebene zurück: auf der politischen. Und siehe da, der Flügelschlag des Schmetterlings, von dem die Chaostheoretiker so gern sprechen, mobilisiert 20 Prozent und – Ecrasez l'Infâme! – kippt dieses arrogante Kartell der Illuminierten.

Natürlich sollte man sich nichts vormachen: Der Leidensdruck in der Wählerschaft, der hier die Felden-
ergie für die Neuausrichtung lieferte, war in erster Linie Folge des rot-grünen Versagens in der Verbre-
chensprävention und -repression, damit aber auch Folge einer mehr als anderswo aus dem Ruder ge-
laufenen Erziehungs- und Jugendpolitik.  Nicht zu vergessen  die Wutreaktion der Bürger auf eine rot-grüne>Ausländerpolitik, die sich schon lange von jedem gesunden Menschenverstand verabschiedet hatte. Das sind Bedingungen, wie sie so extrem nur selten gegeben sind, und mit einer Wiederholung würde ich nicht unbedingt rechnen. Ob man mit einem politischen Ein-Punkt-Programm überhaupt Poli-
tik machen kann, wird sich zeigen müssen.

Dennoch ist der Vorgang lehrreich: Die Zustände in Hamburg ändern sich nicht etwa, weil die Verant-
wortlichen, die Hohepriester des rot-grünen Unsinns, zu Verstand gekommen wären (das sind sie bis heute nicht, dazu sind ihre Theorien zu wahr!). Nicht nur die Geschichte der christlichen oder marxisti-
schen Scholastik, auch die Wissenschaftsgeschichte zeigt: Die reine Lehre, egal welche, ist immer unwiderleglich und wahr. Nur, irgendwann erkennen die Leute ihre Nutzlosigkeit, lassen ihre Vertreter
auf dem Markt stehen und wenden sich einer anderen zu. Ihre Vertreter sterben einfach nach und nach aus.

Eines Tages genügt dann der Flügelschlag eines Schmetterlings, und weg ist sie, die reine Lehre.

R.I.P.





Alle sind gleichbegabt - oder?